Was hat eine Lesung zum Thema «Sexualisierte Gewalt» mit Kultur zu tun? Sehr viel, meint Blogger Gianni Leardini.

Veranstaltungen, die mich zum Nachdenken zwingen – vor allem über mich selbst, meine Werte, Kultur und Denkweise – sind die wertvollsten. Immer öfter versuche ich deshalb meine eigene «Bubble» zu verlassen und in andere einzutauchen. Zuletzt ist mir das an der Lesung von Agota Lavoyer, Expertin für sexualisierte Gewalt, aus ihrem Buch «Jede_ Frau» ganz heftig passiert. Als etwas in die Jahre gekommener CIS-Mann war ich im legendären und bis auf den letzten Platz gefüllten Kreuz-Saal in Solothurn ziemlich in der Minderheit. Aber das kenne ich aus meinen jüngeren Jahren bestens, als mein italienischer Migrationshintergrund noch ziemlich problematisch war (das allein sagt etwas über mein Alter aus…).

Agota Lavoyer erzählt zum Einstieg ihrer lebhaften und kurzweiligen Lesung, dass sie ein paar Stunden vorher während der Mittagspause in Bern von einem Exhibitionisten belästigt wurde. Den hat sie angezeigt, was nicht unbedingt selbstverständlich ist. Zu oft wird leider einfach weggeschaut, aus welchen Gründen auch immer. Eine zentrale Botschaft der Autorin ist deshalb: «Wer schweigt, schützt die Täter.» Das hat allenfalls damit zu tun, dass nicht jede Art von sexualisierter Gewalt so offensichtlich ist wie Exhibitionismus. Und dass die Meinungen, was der Begriff überhaupt bedeutet, stark auseinander gehen. Agota Lavoyers Definition: «Sexualisierte Gewalt verwende ich als Überbegriff, der jedes Verhalten von taxierenden Blicken über Nachpfeifen, verbale und körperliche Belästigung, aber auch Gewalt im digitalen Raum bis hin zu sexueller Nötigung und Vergewaltigung miteinschliesst.» Eine extreme Haltung? Ich finde nicht. Schliesslich entscheidet das Opfer, was übergriffig ist, nicht der Täter.

Keine Angst: Wie immer werde ich das Buch nicht spoilern, ich will euch ja nicht den Spass verderben. Hier aber noch eine wichtige Passage: «Sexuelle Gewalttaten sind keine Einzelfälle und keine Zufallsdelikte. Das riesige Ausmass sexualisierter Gewalt ist kein bedauernswertes, aber nicht verhinderbares Übel, sondern hat System.» Systeme lassen sich verändern. Davon ist Agota Lavoyer überzeugt, sonst würde sie nicht an vorderster Front für diese Veränderung und gegen die «Rape Culture» kämpfen. Doch vor allem wir alle können einen Beitrag leisten, dass die in 99 Prozent der Fälle folgenfreie und unbestrafte sexualisierte Gewalt auch in ihren weniger offensichtlichen Formen nicht mehr heruntergespielt, verharmlost, normalisiert wird. Ihr Buch «Jede_ Frau» (oder andere von ihr) zu lesen, das Thema ernst zu nehmen, ist schon ein erster Schritt in diese Richtung.

Den gleichen Kampf wie die Autorin haben sich die Kleinstadtfreund*innen (höre dazu auch den zmitzcast) auf die Fahne geschrieben. Das «queerfeministische Kollektiv» im Raum Solothurn will zeigen: Intersektionaler Feminismus, der die verschiedenen Diskriminierungsformen wie Geschlecht, Herkunft, Klasse, Behinderung, Sexualität usw. thematisiert, ist auch in Kleinstädten möglich. Das Kollektiv setzt sich für Sensibilisierung ein, ist an Demos präsent und organisiert Veranstaltungen zum Thema. Die Kleinstadtfreund*innen haben zusammen mit KreuzKultur auch die Lesung von Agota Lavoyer organisiert. Ein wichtiges Engagement – von beiden Seiten.

Eventuell fragt ihr euch, was dieses Thema eigentlich mit Kultur zu tun hat bzw. ob das «zmitz-tauglich» ist. Ich finde: Absolut! Kultur und gesellschaftliche Themen sind untrennbar verbunden. Kultur ist, was bewegt und uns anspricht, sie prägt, wie wir denken, fühlen und handeln. Und Kultur ist Diversität. Oder wie der amerikanische Schauspieler Robert De Niro kürzlich in einer Rede am Filmfestival in Cannes treffend sagte: «Die Kunst ist inklusiv … die Kunst umarmt die Vielfalt. Und deshalb ist die Kunst eine Bedrohung. Deshalb ist die Kunst, deshalb sind wir eine Bedrohung für Autokraten und Faschisten.»

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Gianni ist Blogger der ersten Stunde. Er hat schon überall geschrieben und kommuniziert. Bei der Zeitung, für den ÖV, für Spitäler, fürs Vini, jetzt für die öffentliche Verwaltung im östlichen Nachbarkanton. Wieso also nicht für zmitz – wieder. Gianni trifft man immer und überall. Darum schreibt er auch über vieles. Und das durchaus auch mal mit kritischem Blick. Aber lässt sichs auch gut gehen, wenn ihm danach ist.