Was ist für dich gute Kultur, wo geniesst du sie, wie sieht dein alltäglicher, allwöchentlicher Kulturkonsum aus, was hörst, liest, schaust du? Was hast du für Erinnerungen oder Pläne? Mit dem diesjährigen Kultürchen wollen wir «gluschtig mache» auf Kultur. Heute mit Tim Felchlin.

«Gute Nacht» − das Ende einer Geschichte. Das, was wir Kindern sagen nach dem Vorlesen und nachdem das Licht schon gelöscht ist. Als mir selbst noch vorgelesen und danach der Lichtschalter in meinem Kinderzimmer gedrückt wurde, während ich im Bett lag, war das vertraute «Gute Nacht» der letzte kleine Akt eines allabendlichen Rituals, das es längst nicht mehr gibt.

Ich habe lange Zeit übersehen, dass mich ein «Gute Nacht» auch heute noch durch meinen Alltag begleitet. Ein anderes. Keines, das am Ende einer Geschichte steht, sondern am Anfang. Am Anfang eines Liederzyklus.

1827, ein Jahr vor seinem Tod, komponierte der damals 30-jährige Franz Schubert die «Winterreise». Eine musikalische Erzählung für Gesang und Klavier aus 24 Liedern. Damit eignet sich die «Winterreise» auch als musikalischer Adventskalender, wie ich grade feststelle. Wobei ich es bevorzuge, mir den Liederzyklus als Ganzes anzuhören. Zusammen sind die zwei Dutzend Lieder das wunderbarste Werk der Liedkunst überhaupt. Und wenn ich so drüber nachdenke, auch das beste Konzeptalbum der Musikgeschichte.

Die Texte zur «Winterreise» stammen vom Dichter Wilhelm Müller. 24 Gedichte, von denen ich zumindest das erste auswendig kann. Es heisst «Gute Nacht». Oft ganz unvermittelt beginne ich die erste Zeile des Liedes zu singen: «Fremd bin ich eingezogen, fremd zieh ich wieder aus.» Ich singe es zuhause in der Küche, im Badezimmer, manchmal auch draussen und halblaut beim Spazieren. Sanft fallende Achtelnoten in d-Moll.

«Der Mai war mir gewogen mit manchem Blumenstrauss», erzählt das lyrische Ich weiter. Ein wehmütiges Erinnern. Ich singe die Zeile übertrieben schwelgerisch. In gespielt vornehmer Attitüde tu ich so, als wäre ich ein klassischer Tenor bei einem musikalischen Soirée. Dabei bin ich nur ein leidlich talentierter Bariton – hat mir der Leiter meines Laienchors gesagt.

Die nächste Liedzeile gefällt mir besonders gut: «Das Mädchen sprach von Liebe, die Mutter gar von Eh`». Schubert gefiel die Zeile offenbar auch, denn er lässt sie den Sänger gleich zweimal singen. Ich muss schmunzeln über die biedermaiersche Geisteshaltung: Liebe, schön und recht, aber wenn sogar von Ehe die Rede ist, …. Vor allem aber leide ich mit dem Helden der Geschichte mit. Denn ich weiss, was auf seine Erinnerung an wärmere, aussichtsreichere Tage jetzt folgt: «Nun ist die Welt so trübe, der Weg gehüllt in Schnee.» Auch diese düstere Tatsache muss singend wiederholt werden.

Es ist der Beginn einer Reise in die Dunkelheit. 24 Lieder lang rückt der Tod immer näher bis zur Begegnung des unglücklichen Helden mit einem alten, barfüssigen Leiermann im letzten Lied: «Wunderlicher Alter, soll ich mit dir gehen? – Willst zu meinen Liedern deine Leier drehn?»

Klingt alles furchtbar schwer. Ist es auch. Wobei, nennen wir es lieber melancholisch. Denn Schuberts täuschend schlichte Kompositionen lassen eine rührselige Phrase zu Wahrheit werden: Diese Musik ist so schön, dass es wehtut. Und während der junge Wanderer durch leere, verschneite Landschaften irrt, durchlebe ich seinen Zorn, seine Einsamkeit und seine Sehnsüchte mit ihm.

«Die Winterreise» ist ein Märchen mit einem rätselhaften Helden und in dem vieles offenbleibt. Es sind Lieder, die mich traurig machen und mich zugleich trösten. Das Geheimnisvollste daran ist aber: bei der «Winterreise» fühle ich mich wie damals, als ich im Bett lag nach dem Geschitenerzählen, der Lichtschalter wurde gedrückt, und in der Dunkelheit hörte ich das geflüsterte und vertraute «Gute Nacht». 

Tim Felchlin hört viel und versteht wenig von Musik, dafür ein bisschen mehr von Literatur. Tim − ein ehemaliger zmitz-Blogger − arbeitet als Literaturjournalist für SRF und Ö1. Kultur ist ihm wichtig, weil er sonst keinen Job hätte. Seit diesem Herbst moderiert er im Solheure und im Restaurant Baseltor in Solothurn das Dîner Littéraire. Tim lebt in Zürich und Wien.