Kultürchen 24

Das diesjährige Kultürchen ist eine Fortsetzungsgeschichte, ein Schreibexperiment sozusagen. Teil 24 geschrieben hat jener, der die Geschichte begonnen hat: Reto Stampfli. Die Illustration dazu ist von Melanie Caroline Wigger.

Auf einmal hörten die beiden, wie eine helle Stimme den Raum erfüllte: «Auf die Erde voller kaltem Wind, kamt ihr alle als ein nacktes Kind. Frierend lagt ihr ohne alle Hab, als ein Weib euch eine Windel gab.» Nadja stutzte, das hatte sie schon einmal gehört oder gelesen, sie wusste aber nicht mehr wo. Dann begann sich das Bündel zu bewegen, bis ein winziges rundes Gesicht zu erkennen war. Dieses Gesicht war wenige Stunde alt, aber es hatte schon alles, was dazu gehört: Ohren, Nase, Mund und Augen. Samuel fasste Nadjas Hand. Die Zeit schien stillzustehen. Die Kerzen flackerten. Nadja schloss ihre Augen und fühlte sich wohlig warm und zufrieden. Alles, was sie in den vergangenen Tagen erlebt hatte, war weit weit weg. Sie hatte ihr Weihnachten selbst gefunden, das richtige, das unverfälschte, das nie zu Ende sein würde, solange es Menschen gibt und die Liebe immer wieder neu geboren wird.

 

Reto Stampfli wohnt und wirkt in Solothurn. Er studierte Philosophie, Germanistik und Theologie und ist Lehrer an der Kantonsschule Solothurn.

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Kultürchen 23

Das diesjährige Kultürchen ist eine Fortsetzungsgeschichte, ein Schreibexperiment sozusagen. Teil 23 geschrieben hat Reto Koller die Illustration dazu ist von Melanie Caroline Wigger.

«Wo sind sie denn jetzt hin?»

«Das verstehe ich nicht…»

Die herausströmenden Menschen sahen sich ungläubig an, tuschelten untereinander oder wechselten verwirrte Blicke.

Nadja und Samuel standen hinter einem dicken Baumstamm und beobachteten das Schauspiel aus der Ferne.

«Was machen wir jetzt?», fragte Nadja, die Stimme leicht zittrig.

Samuel zuckte mit den Schultern. «Ich weiss auch nicht. Ich kenne diese Leute nicht. Du etwa?»

Sie schüttelte den Kopf.

«Die sprechen alle Deutsch, sind also nicht von hier», fügte er hinzu. «Ich frage mich langsam, ob meine Mutter hinter all dem steckt…»

Eine weitere Minute verstrich. Nadja und Samuel sahen zu, wie die Leute suchend hinter dem Restaurant im angrenzenden Wäldchen verschwanden.

«Weisst du was?», sagte Samuel plötzlich. «Wir schleichen uns jetzt ins Gebäude, die Leute sind ja weg. Dann sehen wir nach, was in dem Saal vor sich geht.»

Nadja kaute nervös auf der Unterlippe herum und sah ihn an. «Ach ich weiss nicht…»

«Na komm schon? Was soll denn schon passieren?»

Nadja lächelte gezwungen, willigte aber ein. Samuel packte sie sanft am Arm und führte sie über die Strasse zum Restaurant. Als sie über die Türschwelle traten, blieb Samuel kurz stehen und lauschte. Kein Geräusch.

Behutsam schlichen sie die Treppenstufen hinauf und blieben mit klopfendem Herzen vor der Saaltür stehen.

Samuel schielte zu Nadja, drückte dann die Klinke nach unten und gab der Tür einen leichten Stoss.

Sie erstarrten.

Mitten im Raum, umgeben von unzähligen Kerzen und goldenem Licht, stand der Engel in Weiss, in den Händen hielt er ein in Decken gewickeltes Bündel.

 

Reto Koller arbeitet für eine grosse Versicherung und schreibt in seiner Freizeit Bücher. Bisher hat er drei Romane veröffentlicht, die alle im Norden Norwegens spielen.

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Kultürchen 22

Das diesjährige Kultürchen ist eine Fortsetzungsgeschichte, ein Schreibexperiment sozusagen. Teil 22 geschrieben hat Ruedi Stuber, die Illustration dazu ist von Melanie Caroline Wigger.

Der Anruf von Marie-Louise kam überraschend. Auch das noch! – Nadja und Samuel tauschten verzweifelte Blicke. Marie-Louises Tonfall war schroff.

Dass man sie zur Jesuitenkirche vorausgeschickt habe… Ok. – Weihnachtsüberraschung? Bravo!

Was sie aber nicht erwartet habe: Dass man sie in der Kirche zwei Halbewigkeiten warten lasse: So habe sie Rousseaus Spruch von der solitude nicht verstanden… – Da freue man sich auf schöne gemeinsame Stunden und nun sitze sie in einer verwaisten muffigen Wohnung vor leeren Gläsern und glotze auf den nebelverhangenen Postplatz.  –  Der Hund sei hungrig und ihre Vorfreude im Eimer. Was das alles denn solle?

Samuel – Handy am Ohr – versuchte sich augenrollend in unbeholfener Beschwichtigungsdiplomatie.

Nadja nestelte in ihrer Tasche und fand tatsächlich den Schlüssel. Der Schlüsselring hatte sich in einer losen Naht im Futter verfangen.

«Wo steckt ihr denn eigentlich?» Marie-Louises Stimme tönte herausfordernd.

Zugeben, dass sie in Le Landeron waren? – Nie!

Den Grund erklären? – Den kannten sie ja selbst nicht!

Der mächtige Brunnen vor dem Restaurant unterlegte der ungemütlichen Szenerie sein beruhigendes Plätschern, als sich die Glastüre des Antica Roma öffnete.

Mehrere aufgeregte Personen traten gestikulierend heraus und schauten sich um.

 

Ruedi Stuber ist nicht nur ein langjähriger zmitz-Blogger, sondern auch ein wortgewandter Liedermacher mit Herz und Seele.

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