Was ist für dich gute Kultur, wo geniesst du sie, wie sieht dein alltäglicher, allwöchentlicher Kulturkonsum aus, was hörst, liest, schaust du? Was hast du für Erinnerungen oder Pläne? Mit dem diesjährigen Kultürchen wollen wir «gluschtig mache» auf Kultur. Heute mit Maria Ursprung.
Da ich dieses Jahr die ehrenvolle Aufgabe hatte, für die Deutsche Akademie der Darstellenden Künste Teil der Jury für das Hörspiel des Jahres 2024 zu sein, habe ich im Verlauf des Jahres über 100 Hörspiele der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten gehört. An dieser Stelle möchte ich sieben Hörspiele herausheben, die im Jahr 2024 veröffentlicht wurden. Alle Hörspiele, die ich hier warm empfehle, können mit einer Google-Sucheingabe gefunden und online nachgehört werden.
«Im Auge des Sturms» von Maxie Obexer
Nach den Wiederwahlen von Donald Trump ist das Hörspiel aktueller denn je: Alle kennen die Bilder vom Sturm auf das Kapitol in Washington 2021. Was aber geschah im Innern des Hauses bei den Abgeordneten an diesem Tag? Die verbalen Kämpfe vor und nach dem gewaltsamen Angriff bilden das Zentrum des Doku-Hörspiels.
«Perlen» von Ludwig Abraham
Vier Aussenseiter suchen ihren Platz in der Gesellschaft. Autor Ludwig Abraham fängt atmosphärisch ihr Leben ein − mit einem Blick aus der Zukunft, zurück auf eine längst vergangene Zeit. Ein Hörspiel, dessen Erzählton sich konsequent zwischen Leichtigkeit und Beklemmung hält und textlich überzeugt.
«Nie! Nie! Nie!» von Wilhelm Genazino
Eine Dame verwandelt sich in eine Büffelfrau. Ein Stück, das sich dem Zeitgeist entzieht, klug, heiter, mit absurdem Humor und manchmal angenehm traurig. Ein bisschen Kafka, Beckett, Büchner schwingen mit, aber ohne deren Hoffnungslosigkeit. Es ist, als hätten die Sprechenden ihren Frieden mit der ungenügenden, fehlerhaften, wohl auch sinnlosen Existenz des Menschen gemacht, indem sie darüber lachten, statt zu weinen.
«Doppeltreppe zum Wald» von Lamin Leroy Gibba
In einem imaginären Garten treffen neun Schwarze Menschen aufeinander, die in Deutschland aufgewachsen sind, die moralischen Unklarheiten ihrer unterschiedlichen Lebensentwürfe diskutieren und miteinander vergleichen. Ihre individuellen Erfahrungen drehen sich um Identität, Rassismus, Empowerment und Sexualität. Das Hörspiel überzeugt durch seinen pointierten Erzählton.
«Der Stein in der Tasche» von Alexander Kluge
Alexander Kluge nimmt uns mit auf eine weitläufige Gedankenreise, die makrokosmische Dimensionen mit mikrokosmischen verknüpft. Man hört den Autor im Live-Gespräch und eigene Texte vorlesend, man hört die Zitate von Fachleuten von Sprecher:innen ausgezeichnet vorgetragen. Das Hörspiel ist Sprungbrett und Verlockung, einen Moment lang in den Strom des politischen Alltags einzutauchen und auch wieder abzuheben und in grösserem Rahmen Übersicht zu gewinnen.
«Blaupause» von Leonie Lorena Wyss
Wir werden im Hörspiel »Blaupause« nicht einfach abgeholt, sondern mitgerissen, hineingerissen in den schnatternden Urwald menschlicher Gefühle, Regungen und Bewegungen, Seufzer und Sätze. Wir verirren uns im Schatten junger Frauen auf ihrem qualvoll süssen, erschreckend sehnsüchtigen Coming-of-age-Weg. Die Hörspielproduktion des Theatertextes überzeugt mit der gelungenen Umsetzung einer ständigen Vielstimmigkeit, die vermutlich in allen brodelt.
«Die Rassistin» von Jana Scheerer
Im sechsteiligen Hörspiel nach dem gleichnamigen Roman sitzt die lesbische Uni-Dozentin Nora Rischer auf dem gynäkologischen Stuhl in der Kinderwunschpraxis, als sie in einer Mail von einem Rassismusvorwurf an ihrer Uni liest. Sie ist vorauseilend empört. Dann merkt sie, dass sie selbst gemeint zu sein scheint. Sprachlich scharf, erzählerisch überraschend und schauspielerisch genau umgesetzt.
«Cloudspotting» von Raquel Meseguer Zafe
Eine Einladung zum Innehalten, (Aus)Ruhen und Zuhören. Stimmen von Menschen, die sich durch ihre Erkrankungen oder Behinderungen mit dem Pausieren auskennen, nehmen uns mit in ihre persönlichen Erfahrungen. Das Hörspiel hat ein eigenes, ruhiges Tempo und ist in Zeiten von Long-Covid und Leistungsgesellschaft ein politisches, aktuelles Statement.
Wer gerne ein Hörspiel von mir hören möchte:
«Bienen schwärmen für sie» von Maria Ursprung
Reina ist frisch getrennt – und schwanger. Um herauszufinden, wie es weitergehen soll, zieht sie in das Haus ihres verstorbenen Grossvaters. Sie übernimmt dessen Leidenschaft: das Imkern. Und lernt, mit den Bienen zu sprechen.
Das Hörspiel mäandert im Stil, laut der SRF-Redaktion, zwischen Rosamunde Pilcher und David Lynch.
Maria Ursprung, Regisseurin und Autorin, liebt Theater und Text sowie ihre Arbeit zwischen Schreibtisch und Tournee. Kunst und Kultur ist für sie ein ständiges Spannungsfeld zwischen Begegnung und Rückzug, Eskapismus und absoluter Präsenz. (Foto: Valentina Verdesca)