Das diesjährige Kultürchen ist eine Fortsetzungsgeschichte, ein Schreibexperiment sozusagen. Teil 11 geschrieben hat Tim Felchlin, die Illustration dazu ist von Melanie Caroline Wigger.
Augenblicklich verflüchtigen sich meine zurechtgelegten Sätze in der Winterluft, so überrascht bin ich, Nadja plötzlich vor mir zu sehen. Keine Silbe bringe ich über meine kalten Lippen und sie schaut mich an, als wäre ich ein Gespenst. Und dann: Zäck! Eine Ohrfeige zmitz auf meine Wange. Und ehe ich irgendetwas darauf erwidern kann, drückt sie mir einen Kuss auf den Mund. Kuss und Ohrfeige – beides wärmt meinen durchfrorenen Körper. Nadja hält meine klammen Hände und schaut mich mit großen Augen an. Keine Spur mehr von Müdigkeit. «Komm mit!», ruft sie und zieht mich über das schneegeschippte Trottoir. Während sie um die Hausecke eilt, schiessen mir ungeordnet die Gedanken durch den Kopf: «Wie kann ich mich bei Nadja entschuldigen? Was würde Dante sagen? Wohin ist eigentlich dieser weisse Hip-Hop-Engel verschwunden? Und warum zerrt mich Nadja in ihren Plüschpantoffeln, die sie nach der Hochzeit ihrer Schwester im La Couronne hat mitgehen lassen, durch die Winternacht?»
Neben dem Schlafzimmerfenster unserer Parterrewohnung bleibt Nadja stehen und schaut zum Platz, wo im letzten Sommer der Ahornbaum gefällt wurde. Darüber hatte sich Nadja furchtbar aufgeregt, während ich ihre plötzlich entdeckte Baumliebe ein bisschen lächerlich fand. Natürlich hatten wir uns deswegen gestritten. Alles was von diesem Baum jetzt noch übrig war, war der schneebedeckte Strunk, auf den Nadja mit ausgestrecktem Finger zeigte. «Da drauf habe ich doch eben noch jemanden sitzen sehen.» Nadja flüstert es mehr zu sich selbst als zu mir.
Tim Felchlin war einst zmitz-Blogger. Weiterhin ist er Mitglied der Truppe von Improvision.