Das diesjährige Kultürchen ist eine Fortsetzungsgeschichte, ein Schreibexperiment sozusagen. Teil 2 geschrieben hat Iris Minder, die Illustration dazu ist von Melanie Caroline Wigger.
Nadja schaut seit geraumer Zeit zum Fenster hinaus. Es schneit so heftig wie seit Jahren nicht mehr. In diesem Jahr aber wird der Traum von weissen Weihnachten erfüllt. Diese Sehnsucht nach einer ganz besonderen Geborgenheit in der gemütlichen Stube, nach in Schneedecken eingepackten Häuschen, nach dem gedämpften, warmen Licht, das den Fremden lockend einlädt, nach dem Duft von Vanille, Zimt und Kardamom, nach der verheissungsvollen Stille dieser Advents- und Weihnachtszeit, nach den flackernden Kerzen auf einem nach Harz duftenden Christbaum.
Nadja lächelt bitter. Was für kitschige und unrealistische Träume das doch sind. Nichts als von der Werbung vorgegaukelter Zauber einer friedlichen Weihnachtswelt. Er hat ja schon recht, wenn er sich von Weihnachten fern hält, von dieser Zeit, in der man Friede zwischen den Menschen und komprimierte Liebe erwartet. Und dann wird es doch ein Monat mit Zwistigkeiten und Enttäuschungen. Er hat schon recht, wenn er sagt, man würde Liebe und Zeit füreinander besser übers ganze Jahr verteilen. Warum nur konnte sie ihm nicht recht geben? Warum nur musste sie einen Streit vom Zaun reissen?
Aber sie war einfach nicht bereit, dass er ihre Weihnachtssehnsucht, ihren Traum nach einer heilen Welt, wenigstens für sie beide, in den Schmutz zieht. Und was war die Folge: Streit, Tränen und Wut. Verärgert verliess er das Haus und stapfte durch den tiefen Schnee in den nahegelegenen Wald.
Warum nur wünscht sie gerade in diesem Jahr Geborgenheit, Wärme und Stille herbei?
Die Grechnerin Iris Minder ist unter anderem Theatertherapeutin, Regisseurin und Autorin. Sie schreibt Theaterstücke, hat aber auch schon einen Kriminalroman veröffentlicht.