«Primitivo»-Duell
Mit einem Glas Rotwein in der Hand und einem Block sowie einem Stift auf den Knien haben sich die zmitz-Blogger Lucilia Mendes von Däniken und Giovanni Leardini ins Kofmehl gesetzt und der Kombination von Pedro Lenz’ Erzählung sowie Christian Brantschens Pianoklängen hingegeben.
Lucilia Mendes von Däniken
«Primitivo» heisst die Geschichte, aus der Pedro Lenz heute Abend im Kofmehl erzählen wird. Mitblogger Gianni und ich steuern darum gleich zu Beginn die Bar an – und holen uns ein Glas Rotwein. Es ist zwar ein Ripasso, aber das ist ein Detail.
Ein anderes Detail fällt mir auf, als Pedro Lenz und der Patent-Ochsner-Pianist Christian Brantschen auf die Bühne treten: «Was, so lange habe ich Lenz nicht mehr live gesehen?», geht es mir durch den Kopf, als ich seine grauen Haare sehe. Mir kommt es vor, als wäre es gestern gewesen, als er mir bei einem seiner früheren Auftritte im Kofmehl gegenüber am Töggelikasten stand, sich die braunen Haarsträhnen immer wieder aus dem Gesicht streichend.
Sonst ist er immer noch der Lenz, wie ich ihn in Erinnerung habe. Schlaksig am Mikrofon, das Buch in einer Hand, die andere hängt nach unten, die Finger zappeln nervös. Ein Wort und die typisch Lenz’sche Stimme hat mich wieder: «So klingt nur einer», denke ich: monoton, fast gelangweilt – aber niemals langweilig. Er schafft es, dass man sich innert Sekunden in der Welt des Maurerlehrlings Charly wiederfindet. Mit ihm leidet, als er am ersten Tag seiner Lehre kesselweise das Material aus der Mulde die Treppen hoch in den 4. Stock schleppt, angefeuert durch spitzen Bemerkungen seiner Kollegen. Bis Primitivo, der spanische Maurer, auf die Baustelle kommt, die Kollegen tadelt, Charly die Kessel aus der Hand nimmt und die Mulde mitsamt Inhalt per Kran in den 4. Stock hieven lässt.
Ich leide auch mit, als Charly um die hübsche Laurence weibelt. Bücher liest, damit er mit Wissen auftrumpfen kann, sich über den Nebenbuhler in Cordhose und Wollpuli aufregt, pubertären Mist baut, den wir wohl alle mal gebaut haben. Und ich spüre Charlys Traurigkeit, als er erfährt, dass sein Schützling Primitivo nicht mehr da ist.
Der Abend mit den Herren Lenz und Brantschen fliesst ruhig, aber stetig vorbei. Fast so wie die Aare, nur wenige Meter neben dem Kofmehl. Stimmt, Brantschen, der war ja auch noch dabei. Gianni meinte nach dem Anlass, kurz nach dem er Lenz ein Buch abgekauft hat, dass er die Musik störend fand. Mir ging es anders: Brantschen schätze ich sehr, er ist immer fokussiert, nie aufdringlich – und so war seine Musik für mich eher wie Liftmusik. Da, als Begleitung – eine respektvoll-passende Umrahmung, nicht mehr und nicht weniger.
Da habe ich mir ganz schön was eingebrockt. Ein ungleiches «Duell» wird das. Lucilia steht auf Pedro Lenz und auf Patent Ochsner – ich habe keines seiner Bücher gelesen, und musikalisch bin ich mit Vasco Rossi aufgewachsen. Aber was soll’s: Erstens ist das hier kein Wettkampf; zweitens wird’s im schlimmsten Fall ein netter Abend mit meiner alten Blogger-Freundin – Win-Win so oder so.
Meine ersten Eindrücke vom Event im Kofmehl: Der Buchtitel «Primitivo» bezieht sich nicht auf den gleichnamigen Wein, wie schon «Dr Goalie bin ig» nichts mit Fussball zu tun hatte; deshalb passt auch der viel zu kalte «Ripasso», den wir an der Bar bestellen, nur mässig. In der Pause wechsle ich auf Bier, Moretti natürlich, wie es sich für einen italienischen Maurer-Sohn gehört. Früher wurde ja auf der Baustelle noch viel getrunken, da hatte die SUVA noch wenig zu melden. Ich weiss das, weil ich als Jüngling in den Ferien ein paar Mal bei meinem Vater auf dem Bau jobben durfte.
Und hier wird’s emotional. Wie die Titelfigur «Primitivo» ist auch mein Vater in den 1980er-Jahren während der Arbeit auf der Baustelle gestorben. Wenn der Ich-Erzähler im Buch – der Maurerstift Charly – seine respektvolle Beziehung zu «Primitivo» beschreibt, habe ich Flashbacks en masse. Den Kloss im Hals und die Tränen habe ich im abgedunkelten Kofmehl diskret weggedrückt, Lucilia hat sie nicht bemerkt.
So ist das Leben: Es geht trotz Rückschlägen weiter, man darf es nicht zu ernst nehmen, dann macht es sogar Spass – wie viele Szenen, die Pedro Lenz vorgelesen hat. Am besten gefallen hat mir die Geschichte der hormongesteuerten Rivalität zwischen Charly und Graber, «däm Besserwüsser, däm Streber», um die Gunst der schönen Laurence. Köstlich auch die Büezer-Storys, die mich stark an meine Erfahrungen als junger Ferien-Muratore erinnerten. Wobei die Realität farbiger und multikultureller war als im Buch, damals sprachen auch die Schweizer lupenreines «Baustellen-Italiano».
War da nicht noch etwas? Ach ja, der Christian Brantschen! Sorry, ein genialer Musiker, aber an diesem Abend hätte ich gut auf sein Piano verzichten können. Das monotone, aber nie langweilige Rezitieren von Pedro Lenz hat mich so in den Bann gezogen, dass ich die Musik eher als störend empfand. Egal, der Abend hat Spass gemacht, war amüsant, traurig, emotional wie das Leben – la vita è bella!