Das diesjährige Kultürchen ist eine Fortsetzungsgeschichte, ein Schreibexperiment sozusagen. Teil 8 geschrieben hat Regula Portillo, die Illustration dazu ist von Melanie Caroline Wigger.
«Ach Samuel.»
Ich zucke zusammen. «Warum weisst du, wie ich heisse?»
Da hebt die weisse Gestalt den Arm in Richtung Steinbrücke, neigt den Kopf lächelnd zur Seite und schaut mich mitleidig an. «Ich bin ein Engel. Schon vergessen?»
«So ein Blödsinn!», schiesst es aus mir heraus. Mein Atem bildet kleine Wölkchen in der kalten Luft. Ruhe bewahren und nachdenken, ermahne ich mich selbst. Bestimmt war es Nadja gewesen, die diesem Engelstypen meinen Namen verraten hatte. Nadja, unser Streit, mein überhasteter Aufbruch – langsam sehe ich klarer. Sie hat mich absichtlich provoziert, damit ich in den Wald renne, um hier der von ihr entsandten Engelsfigur zu begegnen! Ich spüre Erleichterung, spüre Ärger. So wie es aussieht, stecke ich nämlich mitten im «weihnächtlichen Anlass», vor dem ich davongerannt war. Wie clever von Nadja – und wie peinlich, dass ich auf ihre Inszenierung hereingefallen war. Aber halt, da war ja noch etwas. Von Hormonumstellung hatte der Engelsmann gesprochen. Ich fasse mir an die Stirn. Das ist es also: Nadja teilt mir gerade auf originelle Art und Weise mit, dass sie schwanger ist! Während ich mich frage, was ich davon halten soll, greift der Engelsmann nach meiner Hand und lässt sie auch nicht los, als ich sie entschlossen zurückziehen will. Was hat er vor mit mir?
Da halte ich auf einmal inne: Wie eigenartig, dass ich seine Hand nicht fühlen kann, ganz so, als würden wir einander nicht berühren. Erschrocken hebe ich den Blick, starre in des Engels Gesicht, vor dem sich keine Atemwölkchen bilden. Er atmet weder ein noch aus. Er lächelt nur.
Regula Portillo ist im Kanton Solothurn aufgewachsen. Die Autorin hat vor zwei Jahren ihren zweiten Roman «Andersland» herausgegeben (schau hier).