zmitz-Bloggerin Mirjam geht endlich wieder aus und trifft eine Künstlerin oder einen Kulturschaffenden ihrer Wahl. Jemanden, den sie gerne (wieder) einmal sehen würde, von dem es News gibt oder sie schon lange einmal etwas fragen wollte (und sie hat meistens viele Fragen). Der/die Gesprächspartner*in wählt die Beiz und das Getränk.

Seit einigen Monaten treffe ich immer wieder auf den Namen «Brain MC», auch bekannt unter dem Namen «Doc Breasy». Der Solothurner Rapper scheint mir im Moment unermüdlich zu sein: Seit Oktober 2020 hat der er allein drei (!!!) Solo-Alben herausgegeben sowie ein Album unter dem Namen «Gochones» zusammen mit seinem Freund «P.Nero» releast. In meiner Wahrnehmung ist er «plötzlich» aufgetaucht. Doch nun will ich wissen: Wer ist dieser Mensch, der diese ungeheure Schaffenskraft an den Tag legt? Wer schreibt diese Texte, die zum Teil dem gängigen Rap-Jargon entsprechen, bei genauerem Hinhören aber vor gefühlvollen, melancholischen, hinterfragenden, witzigen und zum Teil ironischen Zwischentönen nur so strotzen?

Andy Gygli, so der Name des Menschen hinter «Brain MC», bzw. dem Spitznamen «Doc Breasy» ordert mich ins Barterre, zum «genialen Barkeeper», wie er sagt. Er bestellt einen «Whiskey Mint Smash» für beide – zugegeben, auch mich überzeugt der Barkeeper beim ersten Schluck davon – und er sprudelt gleich los: «Je mehr ich mache, desto schlimmer wird es», erklärt er, «es passiert einfach… ich schreibe und schreibe und kann es nicht aufhalten». Während er erzählt, kann ich mir vorstellen, wie er das meint. Ich nehme an, er arbeitet, wie er spricht: Schnell, ausschweifend und doch bin ich immer wieder fasziniert, dass er die «Kurve noch kriegt» und scheinbar spielend wieder zum Ausgangspunkt der Diskussion zurückfindet. Ich staue aber nicht nur über die Form, sondern auch über den Inhalt, den er erzählt: Seine Rap-Geschichte ist lang. Seine Leidenschaft hat er bereits in der Primarschule entdeckt. Mit dem Kollektiv «Group Therapy» hat er eine riesige Menge an Mix-Tapes aufgenommen, die Solothurner Rap-Szene war sein zu Hause. Und jetzt, mit knapp 40 Jahren, will er es noch einmal wissen. Er hat in der Produktion aufgerüstet, sich selber Neues beigebracht und im letzten Oktober sein erstes Soloalbum «Bscheid gä» rausgebracht.

«Ich spüre jeweils, dass die Songs einfach zusammen gehören, ich fühle plötzlich die Reihenfolge der Songs, das ganze Konzept des Albums», meint Gygli. Ich verstehe völlig was er meint: Auf «Bscheid gä» erklärt sich der Rapper nicht nur selber («Si säge mir Brain MC oder äbe Doc Breasy – bi vo dr Gruppe Therapie»), er nimmt auch immer wieder Bezug zu seiner «Group Therapy»-Vergangenheit und analysiert den Schweizer Hiphop. Ein Werk des Aufbruchs. Wobei er im Song «Säg mou» auch sagt: «Soly 2020 – das git zäme 40 – so aut bini gly.» Und dann lacht er.

Gygli, kein Junger, Wilder mehr?! Auf seinem zweiten Album «Gochones», das er Anfang 2021 mit seinem Freund «P.Nero» releast hat, tönt es auch anders. Die beiden rappen über «Schwänze» und «Frouefüdle»: «Dä isch für aui Frouefüdle – und es zieht mi i Bann – hypnotisiert und scho vou am Grüble – wie sich schmiegt dini Hang.» Na ja, ich werde nicht grad in den Bann gezogen. Doch dann folgen auf seinem zweiten Soloalbum «Sit lieb mitnang» (ebenfalls von Anfang 2021) Textzeilen, die mich umhauen: «Überraschet mi mit Bescheideheit – mit jedem sire Eigeheit und ke Einheitsbrei. Überraschet mi – indäm dir eifach nümme schlächt sit.» Ein Album der Gesellschafts- und Systemkritik. Und schliesslich – im April 2021 – das Album «Zelebriere das Läbe»: «Loset uf die Greta – sie het so rächt – mir müesse Sorg zu däm Planet ha – üs geits nid schlächt.»

Gyglis Textpalette ist riesig. Und langsam – im Laufe des Abends – kann ich mir ein Bild des Menschen hinter «Brain MC» machen: Ein «Brain» scheint er zu sein, ein begnadeter Texter, jemand, der die Welt erfassen und in Zusammenhängen wiedergeben kann. Jemand, der von seiner eigenen Leidenschaft getrieben ist, nicht vom Aussen angezogen, vielmehr von seinem Innern gepusht. Nicht der grosse Ruhm zieht ihn an, das was in ihm drin passiert, muss nach draussen. Jemand, der mit seinen ganzen Emotionen dabei ist. In seinen Aussagen wird immer wieder deutlich, wie gross der Platz seiner Frau und seiner beiden Töchtern in seinem Schaffen ist. Release-Daten seiner Alben beispielsweise sind an Daten in seinem Leben gekoppelt, die ihm in irgendeiner Form etwas bedeuten. Ich fühle ihn als einen Menschen, der ausschweift und öffnet, jedoch immer weiss, wo er steht und wohin er zurückkommt. Genauso wie in seiner Gesprächsführung.

…Und was hat es mit diesem «Gochones»-Album, das mir doch eher etwas spätpubertär herüberkommt, auf sich? «Hach, wir sind einfach zwei Rap-Daddies ohne Hemmungen». Nach zweieinhalb Stunden mit «Brain MC» beginne ich, sogar dieses Album gut zu finden. Aus der langjährigen Freundschaft mit seinem Jugendfreud «P.Nero» ist ein Album entstanden, das das Lebensgefühl mit 18 aus Sicht der bald 40-jährigen wiedergibt. Eines, das sich selber nicht ganz so ernst nimmt, dessen Zwischentöne man zuerst entdecken muss, sie aber eigentlich problemlos findet.

Und während ich diesen Text schreibe, höre ich tatsächlich «Gochones».

Hier findet ihr alle Alben – ich empfehle ausnahmslos alle und weiss aus sicherer Quelle, dass noch in diesem Jahr ein weiteres folgend wird.

Seit der ersten Stunde bei zmitz dabei, ist sie sich bewusst, dass Kultur nicht immer allen gefallen muss. Sie aber weiss, was ihr passt. Soll nicht heissen, dass sie auch einmal über den Tellerrand ihrer eigenen Kultursuppe hinausblickt und Dinge erkundet, die nicht unbedingt ihr Ding sind. Ihr Herz schlägt für Musik – ob ab Bühne oder Konserve – und vor allem für alles, was nicht so ganz in ein Schema passen mag. Und weil sie im Hintergrund aktiv mitdenkt, bleibt zmitz nicht so gut wie ehedem, sondern wird stets besser.