Bloggerin Myriam Brotschi Aguiar liebt Lesungen aus ganz verschiedenen Gründen. Welche das sind und was sie an den Solothurner Literaturtagen erlebt habt, könnt ihr in ihrem stimmungsvollen Erlebnisbericht lesen.
«Die Faszination einer Lesung erschliesst sich mir nicht. Ich will eine Geschichte für mich entdecken, will mir ein eigenes Bild davon machen, will einfach nur lesen, keine Interpretationen dazu hören. Auch nicht vom Verfasser oder der Verfasserin.» Diese Worte kamen jüngst aus dem Munde eines Blogger-Gspänlis und ich nahm sie verwundert wahr. Denn ich persönlich liebe es, Lesungen zu besuchen. Ein Motivator sind sicher meine persönlichen Ambitionen als Schriftstellerin: Ich will wissen, wie es die anderen machen und dazu lernen. Weiter geniesse ich es, mich mit Menschen zu umgeben, die lesen. Das gibt mir Hoffnung für die Menschheit. Und nicht zuletzt sind Lesungen für mich ein probater Weg, um mich der Schreibe von mir unbekannten Autoren anzunähern oder Lieblingsautoren meine unverhohlene Bewunderung zu Füssen zu legen. Letztere sind keine vertreten an den diesjährigen Solothurner Literaturtagen. Das hielt mich jedoch nicht zurück. Ich wollte so viel Literatur wie möglich mitnehmen und habe mir dafür den Freitag Nachmittag und Abend freigenommen. Begonnen habe ich mit Viola Rohner, die aus ihrem Erzählband «42 Grad» las. Das Stadttheater war gut gefüllt, jedoch, ich mache es kurz: Frau Rohners Lesung vermochte in mir nichts zu bewegen. Oder anders gesagt: ich fand in diesen knapp 30 Minuten keinen Zugang zu ihren Protagonistinnen. Ganz anders – und völlig unerwartet – bei Julia von Lucadou. Ich kannte ihr Werk «Die Hochhausspringerin», weil es in den letzten Wochen Schulliteratur meiner Tochter war. Es mag an ihrer Ausbildung liegen, von Lucadou hat Film und Theater studiert, aber vom ersten Satz weg, sah ich ihre Worte als Film vor meinen Augen. Aber es waren nicht nur ihre intelligenten, sinnlichen Sätze, es war auch ihr grosses Talent des Vortragens, ihre helle, klare Stimme, die mich im Sturm eroberten und mich neugierig machten auf ihren notabene dystopischen Stoff. Mal sehen, ob sie sich in meine Lieblingsbücher dieser Art – A Handmaids Tale und 1984 – einreihen kann. Wie schön auch die Einrichtung des Signiertisches: Julia von Lucadous Widmung im Buch meiner Tochter hat später am Abend für glänzende Augen gesorgt.
Dann Pause. Mit dem wohl weltbesten Falaffel-Pita in der Hand, eine halbe Stunde flanieren in den lebendigen Gassen, die Stadt noch in Feiertagsstimmung, der Himmel so blau über der St. Ursen-Kathedrale, Mutige, die ihre Füsse in die Aare streckten, Velofahrerinnen und Velofahrer, die sich zwischen den Menschen durchschlängelten – gibt es ein schöneres Literaturfest? Irgendwo auf dieser Welt?
Um 16 Uhr sass ich dann – gesättigt und neutral abwartend – wieder im Landhaussaal und versuchte, der Geschichte Heinz Hells zu folgen. Es ist mir nicht ganz gelungen. Geschuldet ist das weniger seiner exakten Sprache oder den philosophischen Exkursen, sondern vielmehr meinem vollen Magen und einer leichten Müdigkeit, welche die ersten heissen Sonnenstrahlen in mir ausgelöst haben. Vor Ruth Schweikert musste es also noch für ein Eis in der Vitaminstation reichen. Unbedingt. Schokolade und Grapefruit. Und für ein Capuccino im Hofer. Die beiden sind schliesslich auch Solothurn.
Ruth Schweikert las aus ihren «Tage wie Hunde» und in mir brachen die Dämme. Ich habe Tränen verdrückt, mit ihr gelacht und hing ihr bei den Ausführungen an den Lippen. Es wurde ein aufwühlender, Herz berührender, nachdenklich stimmender Abschluss meines persönlichen Literaturtages. Denn obwohl ich noch zu gerne Ferdinand von Schirach gesehen und auch noch einen Abstecher zu den Spoken-Word-Artisten im Uferbau gemacht hätte: Ich musste Forfait geben. Hirn und Herz waren satt und wie heisst es doch: Man soll aufhören, wenns am Schönsten ist.
PS Abschliessend möchte ich noch den Moderatorinnen und Moderatoren danken, welche die Autoren hervorragend eingeführt, spannend interviewt und ihnen so zusätzlichen Raum gegeben haben: Gabrielle Alioth, Lucas Marco Gisi, Bernadette Conrad und Karin Schneuwly.
Viola Rohner, 42 Grad, erschienen im Lenos Verlag Julia von Lucadou, Die Hochhausspringerin, erschienen im Hanser Verlag Heinz Helle, Die Überwindung der Schwerkraft, erschienen im Suhrkamp Verlag Ruth Schweikert, Tage wie Hunde, erschienen im S. Fischer VerlagSie ist eine Frau des Wortes und des bewegten Bildes. Denn Kino kanns Myriam so richtig antun. Immer mal auf Reisen, weiss die Grenchnerin aber auch bestens Bescheid, was in ihrer Hood geht. Immerhin ist sie bestens verwurzelt. Und wenn sie hier über einen Anlass bloggt, schafft sie es, den Leser oder die Leserin auf einen kleinen Exkurs in Träumerei mitzunehmen. Dies aber nicht, ohne ihn oder sie auch sanft wieder auf den Boden der kulturellen Realität zurückzuführen.