Es gibt für alles ein erstes Mal. Und so besuchte zmitz-Bloggerin Myriam Brotschi Aguiar – eine Frau des Wortes, die liest, so lange sie denken kann – am Freitag Nachmittag zum ersten Mal überhaupt die Solothurner Literaturtage. Ein erstes Mal, das nach Mehr schreit.

Der Nachmittag könnte nicht prächtiger sein, die ist Stadt so lebendig, wie sie an Sonnentagen eben ist. Mein Zeitkontingent ist auf ein paar Stunden beschränkt, weshalb ich mir lediglich zwei Programmpunkte rot angestrichen hatte, den Rest wollte ich auf mich zukommen lassen. So nehme ich um 13.30 Uhr im Hof des Palais Besenval Platz, beim Aussenpodium am Klosterplatz. Wie war es so schnell so Sommer geworden? Bereits suchen Mitinteressierte die raren Schattenplätze auf, ich bleibe, wo ich bin und freue mich an der Lesung Anna Kornickers, welche die Anwesenden mitnimmt auf eine Reise in fantastische Welten. Ich gestehe, es ist weniger die Geschichte, denn dieser unglaubliche stimmige Moment, der mich in geradezu euphorische Stimmung versetzt: Dieser idyllische Ort, die Menschen, die sich hier auf kleinen Sitzbänken, Treppenstufen und auf dem Brunnenrand sitzend zusammengefunden haben, um gemeinsam einer Geschichte zu lauschen; die Hände im Schoss, die Augen auf die Autorin gerichtet oder verträumt geschlossen, aufmerksam, die Geräusche der Stadt im Hintergrund ausblendend. Wunderbar.

Doch, ich kann nicht bleiben, ich will mich unbedingt auf das Experiment «Literatur im Dunkeln» mit Franz Hohler einlassen, welches um 14 Uhr im 2. Stock des Palais stattfindet. Und da die Plätze limitiert, der Andrang jedoch gross ist, lasse ich Anna Kornicker und ihre Protagonisten Jina und Kor hinter mir, steige in den 2. Stock und mische mich unter die Wartenden. «Bei Literatur im Dunkeln dringen nur Worte ans Ohr. Im Schutz der Dunkelheit wird das Echo hörbar, das die Worte in uns selbst finden», so lese ich im Programmheft und ein mulmiges Gefühl beschleicht mich. Absolute Dunkelheit ist nicht so meins, aber ich mache mir selber Mut, denn aus einem Essen in der «Blinden Kuh» weiss ich, dass die restlichen Sinne unmittelbar geschärft (in Alarmbereitschaft versetzt!) werden, sobald die Augen nichts als Schwarz wahrnehmen. Franz Hohler wurde von mir nicht ganz zufällig gewählt, denn insgeheim habe ich mir natürlich gewünscht, dass er das «Totemügerli» vorträgt. Das «Totemügerli» in der absoluten Dunkelheit – grossartig. Meine Gedanken werden unterbrochen, denn nun werden wir von Sehbehinderten – immer sechs Personen auf einmal – routiniert und zielsicher in den verdunkelten Raum und an unsere Plätze geführt. Anmerkung: «Literatur im Dunkeln» wird vom Schweizerischen Blinden- und Sehbehindertenverband (SBV) offeriert.

Schwärze umgibt mich, nicht einmal die Hand vor den Augen lässt sich erkennen. Verschiedenste Gesprächsfetzen dringen an mein Ohr, von vorne, von hinten, seitlich. Die räumliche Orientierung bleibt mir versagt, den Geräuschpegel, das «Glafer» nehme ich als unangenehm wahr und so bin ich froh, als die blinde SRF-Radiojournalistin Yvonn Scherrer endlich Franz Hohler anmoderiert. Wohltuend fröhlich und klar lenkt mich ihre Stimme von meinem Unwohlsein ab, umso mehr als sie verrät, dass sie sich von Franz Hohler das Totemügerli gewünscht hat. Das Totemügerli, 1967 von Franz Hohler als Gromolo (Erzählung in einer Kunst- oder Fantasiesprache) kreiert, ein Stück Sprache, das Geschichte schrieb und schreibt, denn damals wie heute bringt die kleine «berndeutsche» Geschichte die Leute zum Lauschen, zum Lachen, zum Schaudern und zum frenetischen Applaudieren wie an diesem Nachmittag in Solothurn. Franz Hohler ist einer, der es versteht, Sprache auf den Punkt zu bringen, Sprache als Sprachrohr einzusetzen, vieles von ihm lässt lächeln und ebenso vieles macht betroffen. Dafür bewundere ich ihn und obwohl die 45 Minuten viel zu schnell verfliegen, bin ich dankbar, als das Dunkel mich wieder entlässt. Das Landhaus ist mein nächstes Ziel und fast bedauere ich es, nicht länger dem bunten Treiben am Landhausquai zuschauen zu können. Es ist, als ob die Sonne in den hintersten Winkel fallen und sogar unter die aufgestellten Sonnenschirme kriechen wolle, um die Menschen in Heiterkeit und Gelassenheit zu hüllen.

Die Lesung von Ursula Fricker aus ihrem Roman «Lügen von gestern und heute» lässt mich überraschend unberührt, das drumherum gebaute Gespräch empfinde ich als zäh und überflüssig. Aber ich bleibe sitzen, zum einen aus Respekt, zum anderen weil ich genau hier, von genau diesem Stuhl aus den Auftritt der schweizerisch-deutschen Lyrikerin und Ingeborg-Bachmann-Preisträgerin (2015) Nora Gomringer und dem Schlagzeuger Philipp Scholz mitverfolgen will. Und meine Geduld wird belohnt, aber sowas von: Diese Frau, Nora Gomringer, ist irgendwie ein Gesamtkunstwerk: Stark, präsent, lebendig, einnehmend, schön, strahlend und gesegnet. Sie versteht es nicht nur, zu schreiben, sondern auch, ihre Schreibe vorzutragen. Und zwar so, dass sie den vollgepackten Landhaussaal, am Freitag um 16 Uhr, in Minutenschnelle für sich gewinnt. Unterstützt von dem Leipziger Meisterschlagzeuger Philipp Scholz, welcher mit seinen Instrumenten pointiert akzentuiert, was Gomringer rezitiert. Das Publikum lauscht, lacht, lacht noch mehr, applaudiert, die Herzen fliegen den beiden zu, der Energielevel im Saal schwingt hoch hinaus und ich denke: Sprache ist einfach etwas Wunderbares und mein erstes Mal (an den Solothurner Literaturtagen) ein Erlebnis für alle Sinne, denn Literatur, der Umgang mit Sprache ist und bleibt Seelennahrung.

Mein Foto von Nora Gomringer kann ich leider niemandem zumuten, aber teilen will ich den folgenden Text von ihr:

Was wirklich geschieht

Publikum kommt
Dichter setzt sich
Publikum schaut
Dichter richtet sich aus
Dichter legt seine Bücher und Blätter direkt vor sich
Dichter krempelt die Ärmel hoch nimmt die Krawatte ab
Dichter berührt einmal kurz das Mikrofon
Blopp
Publikum verstummt
Dichter lächelt erst lang und nur für einen kurzen Moment ins Publikum
Publikum lächelt zurück
Dichter hält inne während dem gesprochen wird
Publikum klatscht
Publikum nickt
Sprecher geht
Dichter dankt für die einführenden Worte
«Danke für die einführenden Worte»
Dichter erklärt das weitere Vorgehen
Dichter fragt, ob man ihn auch in der letzten Reihe versteht,
wenn er «soooooo» spricht
Publikum ruft «jaaaa»
Dichter räuspert sich und beginnt mit der Lesung indem er sagt:
«Ich beginne»
Dichter raschelt, Dichter liest
Publikum lauscht, Publikum schaut
Publikum hört eines und versteht ein zweites
Publikum platzt
Dichter seufzt, Dichter trinkt
Dichter schenkt nach, schenkt ein und teilt aus
Dichter liest, Publikum klatscht
Dichter hat getan, was er konnte
Dichter steht auf
Dichter verbeugt sich
Dichter signiert
Dichter geht ab
Dichter steigt in seinen Ferrari
und braust in die Nacht.

Sie ist eine Frau des Wortes und des bewegten Bildes. Denn Kino kanns Myriam so richtig antun. Immer mal auf Reisen, weiss die Grenchnerin aber auch bestens Bescheid, was in ihrer Hood geht. Immerhin ist sie bestens verwurzelt. Und wenn sie hier über einen Anlass bloggt, schafft sie es, den Leser oder die Leserin auf einen kleinen Exkurs in Träumerei mitzunehmen. Dies aber nicht, ohne ihn oder sie auch sanft wieder auf den Boden der kulturellen Realität zurückzuführen.