Reeto von Gunten fesselt mit seiner Leseperformance «Rear Window 2.0» die Kulturm-Besuchenden an ihre Stühle. Das ist nicht nur angenehm, findet zmitz-Blogger Peter Gubler.
Als «eine Stimme, mit der man Räume heizen könnte» wurde Reeto von Gunten im «Bund» bezeichnet. Tatsächlich beglückt Reetos Organ die schweizerischen SonntagmorgenhörerInnen vom SRF3-Radiolautsprecher aus. Dass diese Stimme an diesem Abend im Kulturm plötzlich Körper und Gesicht bekommt, irritiert mich kaum. Verwirrend ist nur, dass Reetos Stimme zuerst als Videobotschaft von der Leinwand zu mir spricht. Skurill wirkt dieser Film-Reeto, fast wie ein Roger Federer, der zwischen zwei Grandslam-Spielen zum 45. Mal den Prix-Walo entgegen nimmt.
Doch dann gibt es einen Bruch: nach dem Film-Monolog beginnt der «richtige» Reeto von der Kulturm-Bühne aus zu kommentieren. Redet ihm drein. Schaltet den Film aus und beginnt mit der eigentlichen Lesung. Das erzeugt eine dramaturgische Dichte, die mich umgehauen hat. Wie der mit akustischen und visuellen Mitteln eine Atmosphäre schafft, lässt mich erschauern.
Schauderlich auch seine Hauptfigur: In ihrer Retro-Look-Wohnung ans kabellose Netz gefesselt, online-süchtig. Er ist unfähig, im richtigen Leben mit seinen Mitmenschen Kontakt aufzunehmen und verlässt die Wohnung weder zum Einkaufen noch zum Geldverdienen – geht ja alles von Zuhause aus. Stattdessen beobachtet er seine Blockbewohner von gegenüber und kommentiert deren Leben online. Er verliebt sich gar in seine Nachbarin, aber diese Geschichte endet, bevor sie angefangen hat. Weil die maximale Nähe unter dem Türschlitz durchgereichte Zettelbotschaften sind.
Dass der Protagonist gefesselt ist, fesselt auch das Publikum. Die bedrückende Atmosphäre der Filmeinspielungen, der Soundtrack mit Raps des Solothurners Manillio und von Guntens schauspielerisches Talent bringen die Botschaft rüber: Mehr Barmherzigkeit, mehr Anteilnahme an unseren Mitmenschen. Damit schrammt er knapp an zuviel Pathos vorbei. Gut gemacht, Reeto. Leider blieb einem das Lachen an diesem Abend oft im Halse stecken.
«Rear Window 2.0», die Tourneedaten sind auf reetovongunten.com ersichtlich.